Sagen – spannende Geschichten beim «Abusitz» auf der Ofenbank

03.11.2021   Chantal Seiler-Kenzelmann

Herbst 5
Simon Ricklin

Die sogenannten «Bozugschichte» haben im Wallis eine lange Tradition. Seit Ur-Grossmutters Zeiten erzählen sich die Walliser Geschichten («Zelletä») rund um ihren Alltag, ihre Sorgen und Ängste.

An langen Winterabenden berichten die Alten von Verstorbenen und ihren unglücklich umherwandernden Seelen. Bei Kerzenlicht am warmen Giltsteinofen lauschen die Kinder in der Dämmerung den Worten ihrer Eltern, Grosseltern, Tanten und Onkel. Manch ein Bub zieht die Beine hoch und manch ein Mädchen spürt einen wohligen Schauder über den Rücken wandern.

Die Geschichten beim «Abusitz» handeln von Bekannten und Umherstreifenden, von Glück und Fall, von Gehorsam und Wagemut. Sie alle wollen uns etwas anvertrauen. Im Kern beinhalten sie immer die gleiche Botschaft: Vor allem sollen sie Demut lehren – pass auf, wenn du dich nicht an die Regeln hältst…schau, was dir passieren kann…schon ist es zu spät…

Alte Sennen, noble Herren, Taube und Blinde, junge Hirtinnen, schlaue Wirte, streunende Kinder, gutmeinende Pfarrherren und «arme Seelen» bevölkern die Geschichten – auch der Friedhof spielt regelmässig eine Rolle. Die Rede ist von Alkoholsucht, Gold und Gier und von schwer zu widerstehenden Verlockungen des Teufels.

Bevor die Bergbewohner sich schriftlich mitteilten, erzählten sie sich Geschichten. Von Generation zu Generation werden sie immer noch weitergeführt, manchmal ausgeschmückt oder bei Bedarf eine Begebenheit weggelassen oder eine Person hinzugefügt. Noch heute erfreuen sich diese Volkserzählungen grosser Beliebtheit. Es werden Sagenabende organisiert und die Prozession der «armen Seelen» – der «Gratzug» – aufwändig projiziert. Wahrheit oder Märchen: Schaurig schön sind diese Geschichten allemal.